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Die virtuelle Erbin

Ehegatten haben ein grosses Interesse daran, sich gegenseitig für den Fall des Todes zu begünstigen. Wohl setzt hier das Pflichtteilsrecht Grenzen, doch kann die Durchsetzung der Pflichtteile mühsam sein. Das musste die Tochter eines Erblassers zur Kenntnis nehmen (Bundesgerichts in 5A_246/2017 vom 28. Juni 2017).

Sachverhalt

Die Ehegatten, nennen wir sie Müller, schlossen im Jahr 2015 einen öffentlich beurkundeten Ehe- und Erbvertrag. Im Vertrag vereinbarten sie, dass eherechtlich die Gesamtsumme beider Vorschläge dem überlebenden Ehegatten zusteht und dass erbrechtlich der vorversterbende Ehegatte den nachversterbenden als Universalerben einsetzt. Im Jahr 2016 starb Herr Müller (Erblasser). Gesetzliche Erbinnen sind seine Ehefrau sowie zwei gemeinsame Töchter. Die eine Tochter wollte sich einen Überblick über den Nachlass verschaffen und verlangte deshalb im September 2016 die Aufnahme eines öffentlichen Inventars. Das Bezirksgericht Bremgarten gab dem Gesuch zunächst statt, wies es später aber in Abänderung der ursprünglichen Verfügung mit Entscheid vom 20. Dezember 2016 ab. Die Tochter gelangte ans Obergericht. Die Berufung wurde am 16. Februar 2017 abgewiesen.

Rechtslage

a) Begehren um Errichtung eines öffentlichen Inventars

Das Begehren um Errichtung eines öffentlichen Inventars ist in den Art. 580 ff. ZGB geregelt.

b) Voraussetzung: Berechtigung zur Ausschlagung der Erbschaft

Berechtigt, ein öffentliches Inventar zu verlangen, ist gemässArt. 580 Abs. 1 ZGB jeder Erbe, der die Befugnis hat, die Erbschaft auszuschlagen. Eine Erbschaft ausschlagen kann aber nur, wer auch tatsächlich Erbe ist. Im vorliegenden Fall wurde die Tochter durch den Erbvertrag der Eltern von der Erbschaft ausgeschlossen. Als Alleinerbe wurde der überlebende Elternteil eingesetzt. Wohl verletzt der Erbvertrag das gesetzliche Pflichtteilsrecht der Tochter. Aber der Erbvertrag bleibt trotzdem solange gültig, bis er nicht durch Ungültigkeits- oder Herabsetzungsklage beseitigt wird. Eine Verfügung von Todes wegen ist nämlich nach der Praxis des Bundesgerichts wirksam, solange sie nicht auf Klage hin gerichtlich für ungültig erklärt oder herabgesetzt wird. Bis dann ist die Tochter, obwohl pflichtteilsgeschützt, nur virtuelle Erbin. Die vom Erblasser mit Verfügung von Todes wegen vollständig übergangene Tochter kann ein öffentliches Inventar folglich erst verlangen, wenn sie ihre Erbenstellung durch ein zu ihren Gunsten lautendes Ungültigkeits- oder Herabsetzungsurteil erlangt hat. Vorher ist die Ausschlagung für sie weder nötig noch möglich.

c) Kenntnis vom Nachlass

Auch der Einwand der Tochter, dass sie, um eine Herabsetzungsklage wegen Verletzung des Pflichtteils überhaupt anstrengen zu können, Kenntnis des Nachlasses haben müsse, wurde zurückgewiesen. Die Erhebung der Herabsetzungsklage setze nicht voraus, dass das genaue Ausmass der Pflichtteilsverletzung feststeht, sondern es genügt die Kenntnis der ungefähren Nachlasshöhe und damit der ungefähren Pflichtteilsverletzung.

Entscheidung

Weil die Tochter nicht Erbin war, sondern eben nur virtuelle Erbin, wurde ihr Begehren um Errichtung eines öffentlichen Inventars abgewiesen.

Fazit

Wenn Kindern von Ihren Eltern durch Testament oder Erbvertrag von der Erbschaft ausschlossen werden, müssen sie sich entscheiden, ob sie das akzeptieren oder die letztwillige Verfügung anfechten wollen. Ohne Anfechtung der letztwilligen Verfügung haben sie keine Erbenstellung.

The Advisor – Recht